Schnee

Es gibt sie, diese Tage.
Heute ist so ein Tag.
Ich bewege mich am Abgrund. Emotional gesprochen. Das Grundgefühl ist gut, aber die Gefahr, abzurutschen ist groß. Doch mich vom Abgrund wegzubewegen, das geht nicht, so sehr ich auch möchte. Ich habe nur eine Chance, weiter am Abgrund entlang zu laufen, vorsichtig, und zu hoffen, dass ich nicht falle, bevor der Tag vorbei ist.

Dabei sehe ich ständig in den Abgrund hinab, ich weiß, was dort auf mich wartet, weil ich schon unzählige Male dort war. Ich schaue hinab und hoffe, oben zu bleiben.

Ich tue alles, um oben zu bleiben. An die frische Luft gehen, Tageslicht genießen, auch wenn der Himmel wolkenverhangen ist – denn aus den Wolken fällt der schönste Niederschlag der Welt: Schnee.
Mit anderen kommunizieren, über was Albernes lachen. Da war vorhin ein Typ auf der Straße, mit einem alten, ausgeschlachteten Fernseher auf dem Kopf. Also so drüber gestülpt. Wo früher der Bildschirm war, kuckte er raus und Musik lief auch.

Eigentlich also alles gut. Und doch bleibt mir der Abgrund extrem bewusst. Ich weiß, dass ich nicht mehr viel Tageslicht habe. Und dass es abends oft schlimmer wird. Ich muss an meinen Kumpel Baba denken. Vor ein paar Wochen mit meiner Schwester auf der Straße getroffen. Der hat heute Geburtstag. Ich könnte mich also unter Leute begeben. Müsste ihn nur fragen. Aber ich weiß nicht, ob ich mich im Griff hätte, falls ich doch falle.
Manchmal, da ist der Abstand zum Abgrund etwas größer. Da kann man sowas wagen. Heute ist mir das Risiko wahrscheinlich zu groß. Ich laufe buchstäblich am Rande des Abgrunds.

Das Schneetreiben bildet einen wunderbaren Puffer zwischen mir und dem Abgrund. Die tanzenden Flocken zerschmelzen auf meinem Gesicht, schmilzen auf meiner Zunge. Auf meiner Mütze und meiner Jacke verweilen sie kurz. Ich lächle und fühle mich sicher. Dann gerate ich plötzlich doch ins Straucheln, mehrmals. Kleine Menschen in bunten Wintersachen bringen mich aus der Ruhe.
Mein Alleinsein wird mir bewusst und jetzt falle ich tatsächlich.

Aber ich kralle mich am Rand fest. Erst nur mit links, dann mit beiden Händen. Ich ziehe mich wieder hoch.
Nicht in den Abgrund fallen. Ich krabbele wieder an den Rand.
Es ist schwer. 

Ich gehe weiter, schwankend, aber ich gehe.

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