Frühsport & Wildschweine im Pionierlager

Irgendwann in den Achtzigern
Als ich so ungefähr elf, zwölf Jahre alt war, schickten mich meine Eltern im Sommer in ein Ferienlager. Im Harz war das, wo genau weiß ich nicht mehr. Also, in den ostdeutschen Teil des Harzes schickten sie mich, in ein Pionierlager. Ich denke an die Reaktion einer Bekannten, als ich ihr mal davon erzählt habe:
„In ein was?“
„Ein Pionierlager.“
„Aber ich dachte, Du bist aus West-Berlin…?“
„Bin ich auch. Kommunisten und Pioniere gab es aber auch im Westen…“

Also, das Pionierlager. Im ostdeutschen Teil des Harzes, genauer gesagt in Stolberg. Benannt war es nach Соя Космодемьянская (Soja Kosmodemjanskaja), einer Ikone der russischen Komsomol-Bewegung. Eine echte Partisanin. Ich hab damals – glaube ich – noch kein Tagebuch geschrieben, obwohl das eigentlich als junger Mensch voll mein Style war, deswegen kann ich mich nicht an sonderlich viele Einzelheiten erinnern.
Ich weiß allerdings noch, dass sie uns Frühsport abverlangt haben, was ich total scheiße fand. Ernsthaft. Das war die Hölle. Alter, FRÜHSPORT! Wo gibt’s denn sowas? Fürchterlich.

Und an das Essen erinnere ich mich. An die seltsamen ostdeutschen Lebensmittel, die ich nicht kannte und die komisch schmeckten. Und daran, dass alle außer mir scheinbar krass Spaß hatten und nicht wie ich, einfach nur Heimweh. Ich weiß noch, dass da ein Mädchen war, das ich aus Berlin kannte, allerdings nicht aus der Pioniergruppe. Maria, Tochter von Bekannten meiner Eltern. Aus der SEW. In dem Sommer damals wusste ich noch nicht, dass sie nur wenige Jahre später auf die gleiche Gesamtschule gehen würde, wie ich.

Also, der Frühsport war ja schon scheiße, aber zu allem Überfluss ging im Pionierlager auch noch das Gerücht rum, dass da des nächtens Wildschweine ihr Unwesen trieben. Wildschweine! (Übrigens eins meiner Lieblingsworte auf Spanisch: jabalí, ich find, das klingt super!)

Das Gelände des Lagers war bewaldet (sagt man so?), wir Pioniere schliefen in Bungalows, jeweils zu sechst oder zu acht. I think. Wie gesagt, lange her. ich weiß noch, dass die Bungalows auf Betonfundamenten standen, man musste zwei oder drei Stufen „nach unten“, wenn man raus wollte.

Und raus musste man oft, weil, es gab Programm. Mal abgesehen von dem verschissenen Frühsport. Ausflüge und sowas. Ich bin sicher, wir sind irgendwo hingefahren, und ich bin mir sicher, mir wurde schlecht im Bus. Weil mir immer schlecht wurde im Bus und ich die Reisetabletten verlegt hatte, Mama war ja nicht da. Wirklich erinnern tu ich mich aber nicht, sorry.

Raus aus dem Bungalow musste ich auch, wenn ich auf’s Klo wollte. Weil sich die sanitären Anlagen („Einrichtung“ reicht da nicht mehr aus, das war alles riesig) am Ende des Geländes befanden. Also, für’s Waschen wird’s ein Zeitfenster gegeben haben, pinkeln ging man eben, wenn es sein musste.

In einer der ersten Nächte musste es dann sein. Ich wurde vom Druck auf meiner Blase wach und verfluchte das letzte Getränk, das ich zu mir genommen hatte. Mir war klar, bis zum Morgen verheben war ausgeschlossen. Aber mir war jetzt schon schlecht vor Angst, wenn ich daran dachte, auf dem Weg zum Klo möglicherweise von einem kaltblütigen Keiler angefallen zu werden. An meinem Kopfende war das Fenster, ich zog die Gardine zur Seite. Die Bewegung erhöhte den Druck auf meine Blase, es war fucking dringend. Shit. Zappenduster draußen. Mir fiel das Stützgeländer ein. An der Seite, da wo nicht die Treppe war, war so eine Stütze mit ein paar Streben. An denen würde ich mich festhalten und runterpullern können. Ein Hoffnungsschimmer.

Ich zog meine Turnschuhe an, lauschte den Schlafgeräuschen meiner Bungalow-Nachwuchsgenossinnen und schlich nach draußen, auf diese minikleine Veranda, die wir hatten. Es war echt dunkel. Ich konnte geradeso das Stützgeländer ausmachen. Ein Schritt und ich war da. Ich zog die Buxe aus und war froh, dass Sommer war. Mit sechs war ich mal im Winter-Pionierlager in Oberhof, schweinekalt war das.

Es stellte sich heraus, dass ich mich tatsächlich, mit den Füßen auf dem Fundament und den Händen am Geländer einigermaßen bequem hängen lassen und losstrullen konnte. Ich glaube, in diesem Moment ist mir der komplette Harz (einschl. Westteil) plus Erzgebirge vom Herzen gefallen. Es dauerte ewig, was natürlich aus heutiger Sicht sehr lustig ist, damals aber klopfte mir das Herz, denn was, wenn Karl Keiler mein Pipi roch? Hä? Dann wär auf jeden Fall Schluss mit Frühsport, soviel steht fest.

Aber das Glück war mir hold, ich beendete das kleine Geschäft unbehelligt.

Am nächsten Morgen wurde ich wach, als unser Pionierleiter reinkam und uns mit den folgenden Worten weckte: „Gut, dass wir die Fundamente haben, hier hat letzte Nacht ein Wildschwein an die Wand gepieselt!“

Alter, da haben wir aber echt (Wild)schwein gehabt.

Eine Antwort zu „Frühsport & Wildschweine im Pionierlager“

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