Nächster Bahnhof: Hartz IV. Endbahnhof.

Die Frau scharrt angestrengt mit ihrem Fuß auf dem Boden des U-Bahn-Waggons. Mit dem rechten Fuß. Der linke Fuß steckt in einem nicht zum rechten passenden roten Schuh und ist seltsam angewinkelt, während der rechte Fuß beharrlich weiterschubbert. Gerade frage ich mich, ob sie nur einen nervösen Tick oder einem alten Kaugummi den Kampf angesagt hat – da kuckt sie mir auf einmal direkt ins Gesicht.

Sie kuckt gleich wieder weg und es fühlt sich an, als hätte sie die Frage in meinem Kopf gehört und wolle mir mit ihrem kurzen Blick sagen „Geht dich einen Scheiß an!“ Ich fühle mich ertappt und kucke schnell woanders hin.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie aufsteht, bzw. ihren Körper mit dem dicken Mantel und den vermutlich drei Pullis darunter, plus mehreren Kleidungsschichten am Bein, umständlich aufrichtet. Sie rafft den Polenkoffer und die zwei Plastiktüten zusammen und schlurft in Richtung Tür. Fast stolpert sie, da der rote Schuh am rechten Fuß eigentlich viel zu groß ist. Wie bei so’nem Clown. Kurz bevor sie den Türknopf bedient und am Bahnhof Gneisenaustraße aussteigt, dreht sie sich nochmal zu mir um und kuckt mir wieder direkt ins Gesicht. In die Augen, mitten rein. In meine Seele.

Wisst Ihr, was?

Ich hab Euch angelogen. Die Frau gibt es gar nicht. Beziehungsweise lebt sie nur in meinem Kopf. Wohnungslos im Wohnzimmer meiner Fantasie.

Die Frau begegnet mir immer wieder in letzter Zeit, denn sie verkörpert meine schlimmste Angst: Obdachlosigkeit.

Nach siebzehn Jahren Selbständigkeit musste ich nun vor zwei Monaten Hartz IV beantragen.

Nach siebzehn Jahren, in denen es manchmal hart, meist jedoch machbar war, schaffe ich es jetzt nicht mehr allein.

Und der Begriff „Hartz IV“ triggert schlimme Bilder in meinem Kopf. Von Menschen, die ihre Wohnung verlieren und auf die Straße müssen. Ich sehe Bilder von mir selbst in der U-Bahn, wie ich die „Motz“ verkaufe. Erinnere mich an Menschen ohne Wohnung in der U-Bahn, die so stanken, dass ich Brechreiz bekam. Und ich bin mir sicher, mit Hartz IV hat es bei denen auch angefangen.

Erst Hartz IV aufgrund des Auftragsmangels und fehlendem Einkommen. Dann die Räumungsklage, weil es trotz Hartz IV einfach nicht für die Miete reicht. Der Mann, der mich verlässt und die Familie, die keinen Respekt mehr hat und mich hängen lässt.

Achtung, nichts davon ist auch nur im Ansatz wahr und dennoch ist es in meinem Kopf so real, dass es mir tags die gute Laune und nachts den Schlaf raubt. Es ist ein bleiernes, zähes Gefühl, das mich lähmt und nach Versagen schmeckt. Es schmeckt, wie die schlimmsten Obdachlosen riechen, zumindest in meiner Vorstellung. Es nimmt mir den Atem, und wenn ich den Leuten erklären will, warum ich so scheiße drauf bin, finde ich keine Worte.

In erinnere mich an Worte, aufmunternde Worte, von Freunden und Familie, „Das wird schon!“ „Jemand, der so talentiert ist, wie Du, der landet doch nicht unter der Brücke!“ „Du sprichst drei Sprachen!“

Ich weiß, es sind gut gemeinte Worte, und diese Menschen meinen es gut mit mir.

Aber es sind eben auch Worte, die ich schon kenne und die mir nicht weiterhelfen. Sie helfen nicht, wenn ich jedes Mal meinem Geld hinterher rennen muss, da ich in Vorleistung gehe. Sie helfen auch nicht, wenn der Kunde sich weigert, zu zahlen, nur weil ich darauf bestehe, meine Reisezeit vergütet zu bekommen (weil es sich schlicht so gehört und übrigens auch mit diesem Kunden immer so gehandhabt wurde) und jetzt als „schwierig“ gelte. Und sie helfen erst recht nicht, wenn das sexisitische Arschloch aus Spanien mir ins Gesicht sagt: „Bei deinem Stundenlohn müsstest Du mir eigentlich jeden Tag einen blasen!“ Obwohl ich unter deutschem Tarif arbeite, was bei Kunden aus dem Ausland oft der Fall ist. Und lasst Euch jetzt bitte nicht einfallen, mir zu raten, ich solle mir doch „einfach“ ein paar besser zahlende Kunden aus Deutschland suchen. Denn das habe  ich – man stelle sich vor – bereits versucht. Und wenn es so einfach wäre, wie viele zu glauben scheinen, dann müsste ich diesen Text hier nicht schreiben. Dann müsste ich den Leuten nicht erklären, dass ich es mir nicht leisten kann, für lau zu arbeiten. Weil auch ich Miete zahlen muss. Und nur, weil ich meinen Job gut mache und er mir vielleicht etwas leichter fällt als anderen Leuten, heißt das nicht, dass es keine Arbeit ist. Nur, weil wir alle mal Englisch (oder von mir aus Swahili) in der Schule hatten, heißt das nicht, dass Übersetzer und Dolmetscher Weichei-Pups-Berufe sind. Immerhin musste ich vier Jahre studieren (an einer Universität!) und ein Diplom machen.

Ich kann auch ganz gut Photoshop. Bin ich deshalb Grafiker? Nein. Traue ich mir zu, eine Webseite zu designen? Auch nicht. Würde ich diesbezüglich einen Profi hinzuholen und bezahlen? Ja. Logo. So und nicht anders läuft das Dienstleistungsgeschäft.

Diese Gedanken machen mich wütend, als sie mir durch den Kopf gehen, nachdem die Obdachlose in meinem Kopf aus der U-Bahn ausgestiegen ist. Zwei Stationen weiter muss ich auch raus.

Hermannplatz, immer noch wütend.

Wütend und ängstlich, das bin ich eigentlich nicht. Das sind Gefühle, die einen kaputt machen, von innen zerfressen. Die einem den Angstschweiß ausbrechen lassen. Bald werde ich so stinken, wie die Obdachlose. In meinem Kopf.

Manchmal geht das schneller, als man denkt. Manchmal sind es nur zwei Stationen.

7 Antworten zu „Nächster Bahnhof: Hartz IV. Endbahnhof.“

  1. Verlier den Mut im Herzen nicht!

  2. Mach dir keine Sorgen.Wenn du als Selbstständige Hartz4 beantragst,hast du so gut wie keine Chancen Zahlungen vom Amt zu erhalten.Da ist es wesentlich einfacher sich einen bezahlten Job zu suchen.Was du wohl auch machen würdest,bevor du noch stinkst wie ein Obdachloser.

    1. Ach, danke, Robert. Von Herzen. Für GAR NICHTS.
      Da hast Du wohl damals nicht besonders laut „Hier!“ geschrien, als Optimismus und positives Denken verteilt wurden, wa? Und Leerzeichen, damit wurdest Du auch nicht so gesegnet, wie es scheint. Findest Du die nicht auf Deiner Tastatur? Ist diese ganz lange Taste unten (ja, gibt es auf dem Smartphone auch, steht „Leerzeichen“ drauf), versuch es einfach mal!
      Eine Frage, worauf genau basierst Du die These, dass ich als Selbstständige nix vom Amt kriege? Hast Du‘s mal probiert und Dich zu blöd angestellt?
      Mein Sachbearbeiter sagt jedenfalls was ganz anderes.

  3. Wie gut ich diese Worte und damit verbundenen Ängste nachvollziehen kann! Ich bin selbstständig, habe mehr oder weniger genug zum Leben; aber liebe meinen Job! Trotz Schwierigkeiten.
    Regelmäßig steige ich am Ubahnhof Gneisenaustraße aus und sehe so oft diese wirklich liebenswerte Frau dort mit ihrem Buch die jedoch immer mehr verfällt und probiere mit Kleinigkeiten zu helfen…was letztendlich doch wieder frustrierend ist, da diese Person trotz vielfach angebotener Hilfe stetig weiter abwärts zu steuern scheint 🙁

    1. Danke, Ju, für Deine aufmunternden Worte! Ich verliere den Mut nicht! 😘

  4. […] ➔ Nächster Bahnhof: Hartz IV. Endbahnhof. […]

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