Das Glas der Wodkaflasche fühlt sich kühl und glatt an. Der grüne Deckel wurde schief aufgeschraubt und das gleichfarbige Etikett ist eingerissen. Mein Blick hängt wie festgenagelt an der leeren Flasche. Ich starre das Regalfach an und frage mich, wie lange die Moskovskaya da wohl schon steht. Obwohl das eigentlich egal ist. Es ist nicht wichtig, wie lange sie uns schon anlügt. Wir wussten eh, dass sie nicht ehrlich ist. Kann sie ja auch gar nicht. Schwer suchtkrank und untherapiert, da uneinsichtig. Eine fatale Kombination, die für sie schlimmste Einsamkeit bedeutet, da es niemand bei ihr zu Hause aushält. Selbst die Kolleg:innen vom Pflegedienst sind spätestens nach einer halben Stunde raus bei ihr, da sie zu allem Überfluss auch noch raucht, wie der Marlboro-Mann und seine beiden Brüder. Zusammengenommen. Sie kann – oder will – es auch überhaupt nicht verstehen, dass deswegen keiner mehr zu Besuch kommt. Zigaretten und Wodka sind buchstäblich das Letzte, was sie hat. Und sie klammert sich so fest an sie, dass ihr alles andere zwangsläufig aus den Händen gleitet.
Sie hat nichts mehr. Nur noch uns und ihre Laster. Und die vielen offenen Rechnungen. Mögliche Lösungswege hat sie schon vor langer Zeit ausgeschlagen. Denn diese bedeuten die Einschränkung oder vollständige Aufgabe zumindest eines ihrer Laster. Und das will sie einfach nicht. Da können einem noch so viele vernünftige Gründe dafür einfallen. Sie will. Sie. Nicht. Hören. Wie so ein bockiges Kind.
Was das mit uns macht, mit ihren Kindern, dafür hat sie weder einen Blick noch ein Gehör. Im Gegenteil. Sie erwartet die Rettung von uns. Sie setzt voraus, dass wir für sie da sind in ihren schweren Stunden. Denn wozu hat man denn sonst Kinder? Die bekommt man doch nur, damit sie einen im Alter pflegen. Das ist ihre Haltung und sie ist daher zu 100% enttäuscht von ihren Töchtern, von uns. Sie hat uns schließlich das Leben geschenkt, da ist das ja wohl nicht zu viel verlangt!
Ich wäre so gerne für sie da, ehrlich. Das schlechte Gewissen und die Angst, eine „schlechte Tochter“ zu sein sind meine ständigen Begleiter. Ich wäre wirklich gern öfter bei ihr. Aber ich bekomme nur schwer Luft in ihrer Wohnung. Kein Witz. Ich rauche selber gelegentlich, aber das kann sich niemand vorstellen, wie es bei ihr daheim riecht. Man nimmt den Rauchgestank schon draußen vor der Tür wahr, im Hausflur wird es noch schlimmer und bei ihr drin ist es schier unerträglich. Zumal sie auch nicht ans Lüften glaubt. Die Vorhänge sind immer zugezogen, die Balkontür ist immer fest verschlossen, genau so wie sie selbst.
Die Krux daran: ich kann ihre Gefühlslage sehr, sehr gut nachvollziehen. Sie durchlebt meinen absoluten Alptraum: einsam und allein alt werden. Auch ihre Einstellung, bzw. dieses Gefühlskonstrukt „Das steht mir zu!“, das ihren Charakter Zeit ihres (und meines) Lebens bestimmt hat, ist mir geläufig. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt, weil ich mich selbst oft so fühle, viel öfter als mir lieb ist. Mein Umgang damit ist aber ein anderer, weil auch ich eine andere bin. Ich erkenne, dass sie dieses Gefühl auf mich übertragen hat (vermutlich aufgrund ihrer eigenen traurigen Kindheitsgeschichte) und dass es, streng genommen, nicht mein Gefühl ist.
Ich frage mich auch oft, woher sie den Alkohol hat. Der Pflegedienst kauft ihr den ja nicht. Besuch bekommt sie nicht, es bringt ihr also niemand was mit. Geht sie da alleine hin? Obwohl sie immer behauptet, dass sie nichts mehr alleine schafft? Wieder so eine Lüge. Vielleicht lässt sie sich den auch liefern, möglich ist alles. Eins ist klar: die 500 Euro Bargeld im Monat, die ich ihr immer bringe, damit sie dem Pflegedienst die Supermarkteinkäufe erstatten kann, können nicht nur für Lebensmittel sein. Sie isst ja kaum noch was und wiegt nur noch knapp 40kg. Selbst wenn sie das alles bei Karstadt in der Feinkostabteilung kaufen ließe, gingen da nicht 500 Euro für drauf. Nie im Leben. Das meiste zahlt sie da für ihren langsamen, schleichenden Tod.
Wir sind dazu verdammt, ihr bei dieser Quälerei zuzusehen. In ein Pflegeheim wird sie niemals gehen, dort könnte sie nämlich nicht saufen, und rauchen wahrscheinlich auch nicht so viel, wie sie gern würde. Einen gesetzlichen Vormund lehnt sie auch ab, wobei ich das sogar verstehen kann. Ihr wäre es am liebsten, dass wir alle Entscheidungen für sie treffen. Aber – selbstverständlich – nur in ihrem Sinne. So wie sie das möchte. Weil das aber Quatsch ist und niemandem hilft, am allerwenigsten ihr, machen wir das natürlich nicht. Wenn wir sie fragen, was sie möchte, sagt sie nur: „Gesund werden, so wie früher.“ Dass das nicht passieren wird, dass sie nie wieder die Alte sein wird, das kann ich ihr nicht jedesmal reindrücken. Das ist einfach zu hart. Die einzige Option, die wir haben ist, ihr beim Sterben zuzuschauen. Und sie stirbt in der langsamsten Zeitlupe, die es jemals gab, vor sich hin, seit Jahren schon.
Das Glas der Wodkaflasche ist kühl und glatt und der Staub aus den Lügen und Klagen meiner Mutter hat sich wie eine stumme Decke auf das Glas gelegt.
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