Vierundvierzig Wochen Gift

„Das war’s dann mit uns.“

Nach vierundvierzig Wochen Kampf, immer wieder aufkeimender Hoffnung, leichtfertig gegebenen und stets gebrochenen Versprechen, bleierner Sorge, endlosen Gesprächen, lähmender Hilflosigkeit, unzähligen Arztbesuchen und regelmäßigen Krankenhausaufenthalten, sind dies möglicherweise die letzten Worte, die zwischen uns gesprochen wurden.

Vierundvierzig Wochen, die vierundvierzig im Grunde gute, wenn auch mitunter schwierige Jahre, unheilbar vergiftet und das Vertrauen in Dich unwiederbringlich zerstört haben.

Und es hat einiges gebraucht an Gift, bis ich es nun endlich kapiert habe.

Es war nicht genug Gift, Dich auf dem Boden Deines Wohnzimmers vorzufinden, nachdem Du der Länge nach mit dem Gesicht zuerst, hingefallen sein und stundenlang dort gelegen haben musst, unfähig, allein wieder aufzustehen. Diese sonst immer so starke Frau, besinnungslos vom Alkohol, mit Schürfwunden im Gesicht vom Sisalteppich. Die gar nicht richtig mitgeschnitten hat, dass ihre Töchter sie gerade zu zweit aufgesammelt und auf’s Sofa gesetzt haben. Deine erste Amtshandlung war damals, Dir mit zitternden Fingern, die so schwach waren, dass sie das Feuerzeug kaum bedienen können, eine Benson anzuzünden. „Mir war so schwindlig.“ hast Du gelallt, immer noch voll wie tausend Russen. Das war das erste Gift, das Du mir gegeben hast, in Form von schlaflosen Nächten und nassgeheulten Kopfkissen, die Sorge, dass Du Deine Bude in Brand setzt oder Dir das nächste Mal richtig den Schädel anhaust und elendig verreckst.

Es war auch nicht genug Gift, als Du Deinen ersten Therapieversuch nach zwei Monaten auf der Entgiftungsstation und einem (!) Tag in der Reha/Entwöhnung abgebrochen hast. Bis heute redest Du Dich damit raus, dass sie Dich als „nicht rehafähig“ eingestuft haben, dabei warst Du einfach bloß bockig. Bist nur wegen Deinen Töchtern in die Klinik, und nicht, weil Du wolltest. Du warst noch nicht mal aus der Klinik raus, da sagtest Du schon, „Na toll, jetzt war ich hier zwei Monate drin, für nix und wieder nix.“ Dass Du immerhin zwei Monate keinen Alkohol getrunken hattest, konntest Du so gar nicht wertschätzen. Es hat keine Woche gedauert, da wurdest Du rückfällig. Unser Kontaktabbruch wurde vereitelt, da immer wieder Rechnungen bezahlt werden mussten. Da Du Dir jedoch Deine gesamte Sehkraft durch Vodkasaufen und Kettenrauchen versaut hast, und um zu vermeiden, dass der Gerichtsvollzieher bei Dir einreitet, kümmern wir uns darum. Letzteres – das Kettenrauchen – ist übrigens meines Erachtens nach der Hauptgrund, dass Du vereinsamt bist und eine Depression entwickelt hast, von der Du nie etwas gesagt hast. Jetzt ja, jetzt wirst Du nicht müde, uns zu erzählen, wie traurig Du bist, aber die aktiven Schritte in Richtung Therapie, die gehst Du nicht. Hältst per se nichts von Psychotherapie und glaubst nach wie vor, den Alkohol unter Kontrolle zu haben.

Jedes Mal ein bisschen mehr Gift: wenn ich Dich an Deine Versprechen erinnere. Kurzzeitpflege, der Du zugestimmt hast (damit wir Ruhe geben), und von der Du ein paar Wochen später (wenn sie Dich im Krankenhaus wieder gepäppelt haben und Deine Sturheit durchkommt) nichts mehr wissen willst. Noch ein bisschen mehr Gift, wortwörtlich, als ich zu Dir nach Hause komme, in die Rauchbude (Du wohnst im Parterre und es stinkt bis an die Haustür), weil sich die Dame vom MDK angekündigt hat, wegen Deiner Pflegestufe und Du in der knappen Stunde, die wir warten, drei oder vier verschissene Zigaretten rauchst, obwohl ich mehrmals erwähnt hatte, dass ich Kopfweh bekam (und ich saß schon auf dem kleinen Balkon!). Und kaum ist die Dame aus der Tür, die ich übrigens unter Tränen verabschiedet habe, weil Du wieder mal alles runtergespielt und geschauspielert hast, zündest Du Dir direkt wieder eine an. Dank Deiner schauspielerischen Leistung gibt es übrigens jetzt, genau wie damals, von der Krankenkasse wieder nur einen Duschhocker zugestanden, dabei musst Du eigentlich jeden Tag Essen kriegen und Gesellschaft wär auch nicht schlecht. Aber Du willst Dich lieber vergiften. Mit vierzig Benson & Hedges am Tag.

Vierzig Benson am Tag würden mich umbringen. Ich glaube, ich habe meine Giftgrenze erreicht:

Vor zwei Tagen fand meine Schwester, die nach der Post und nach dem Garten sah, dreißig leere Vodkaflaschen in einem Karton, der schon seit Monaten in Deiner Wohnung steht. Den ich selbst, beim Staubsaugen vor einigen Wochen, bewegt habe, und der definitiv leer war. Mir hattest Du gesagt, Du hättest es begriffen, und würdest nichts mehr trinken.

Ich weiß nicht, was mehr schmerzt, Deine Lüge oder meine Scham darüber, Dir naiv geglaubt und doch nochmal Hoffnung geschöpft zu haben. Hoffnung, die jetzt wieder vernichtet wurde. Es ist ein Gefühlscocktail, der mein Herz auseinander reißt. Ich würde Dich so gerne hassen, ich glaube, das wäre einfacher zu ertragen, aber ich weiß, dass Dir Dein Dein süchtiges Gehirn keine andere Wahl lässt. Davon abgesehen wäre Hass eine Verbindung zu Dir.

Ich weiß genau, dass Loslassen die einzige Möglichkeit ist, mich selbst zu retten. Und Dein letzter Satz, gefallen gestern in einem Telefongespräch, in dem ich Dir eröffnet habe, dass wir die dreißig Flaschen gefunden haben – die natürlich alle „von vorher“ und „alt“ waren – und ich Dir kein Wort mehr glaube, könnte mir diesen Schritt leichter machen.

Mama, Du hast die Trennungsworte ausgesprochen. In die Tat umsetzen muss ich sie allerdings allein, denn wenn Du bisher eines bewiesen hast, dann dass Du Deinen Worten keine Taten folgen lässt. Du hast noch nicht mal verstanden, dass Du ein Problem hast. Du wolltest lediglich eine bestimmte Reaktion bei mir erzeugen.

Es wird wehtun und es wird dauern. Mein Herz blutet stark, der Gedanke, Dich im Stich zu lassen, nagt und frisst sich in mein offenes Herz hinein. Aber der Gedanke, mich selbst nicht im Stich zu lassen, er schlägt trotzig in meinem Herzen. Nicht bereit, zu schweigen.

Der Gedanke, dass ich nur ein Leben habe, er ist am Leben.

Trotz dem ganzen Gift.

2 Antworten zu „Vierundvierzig Wochen Gift“

  1. 😎 Glückwunsch! ^^ LG @all! Hotscha 24 wordpress.com.

  2. Schmerz, Schmerz und noch mehr Schmerz, aber woher kommt er? Alkohol(ismus) ist eine Geißel der Menschheit, unsere Kultur lässt ihn zu, darum sieht man ihn überall. Jedoch ist immer Schmerz der Auslöser, jede Therapieform, die das nicht berücksichtigt muss scheitern. Viel Erfolg beim Überleben jedenfalls!

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